Bemutterung und Familienpolitik – eine Folgenabschätzung (1) (Fh 2011/4)

von Beri Fahrbach-Gansky

Junge Eltern zeigen mit wachsender Begeisterung Baby-Bilder herum. Beim dreißigsten Bild beginnen die BetrachterInnen krampfhaft zu überlegen, wie sie sich den immer noch euphorischen Eltern schonend entziehen können. Für Mutter und Vater ist das eigene Kind etwas ganz Besonderes. Auch für ein Kind ist seine Hauptbezugsperson – meist die Mutter – absolut exklusiv. Aus diesem Verhältnis ergibt sich ein einzigartiges Verhalten: Die Mutter bemuttert ihr Kind.

Bemutterung ist das, was eine Mutter (bzw. Hauptbezugsperson) konkret im positiven Sinne an ihrem Kind tut.
– Bemutterung ist ein biologisches Verhaltensprogramm. Die meisten Säugetiere verhalten sich wie z.B. das Mutterschaf: Es hört sein Lamm aus einer ganzen Herde blökender Schafe heraus, und umgekehrt findet jedes Schäfchen seine Mutter. Diese bemuttert nur ihr Kind.(2)

– Es gibt Kuschel-, Bindungs- und Fürsorgehormone (z.B. das Oxytocin), deren Menge durch Schwangerschaft, Geburt und Stillen messbar erhöht wird. Auch Bemutterung, Körperkontakt und Zärtlichkeiten bewirken Oxy­tocinausschüttung bei Mutter und Kind.(3)

– Bildgebende Verfahren zeigen, dass bei einer Mutter die Laute oder ein Bild ihres Kindes deutlich mehr Aktivität in bestimmten Gehirnregionen auslösen als die eines anderen Kindes.(3)

– Mütter zeigen ihrem Kind viel und lassen es an dem, was sie tun, Anteil nehmen. Und umgekehrt nehmen sie Anteil an dem, was ein Kind im Moment beschäftigt. Diese „geteilte Aufmerksamkeit“ („joint attention“) ist sehr wichtig für die Entwicklung. In Krippen fand man zwischen Erzieherinnen und Kindern sehr wenig und z.T. auch überhaupt keine „geteilte Aufmerksamkeit“.(4)

– Auch die positive Fürsorglichkeit („positive caregiving“) von Erzieherinnen lässt sehr häufig zu wünschen übrig, in Krippen in den USA ungefähr in der Hälfte der Fälle.(5)

– In einer Studie wurden Interaktionen gefilmt, einmal zwischen Müttern und ihrem Kind und dann zwischen Krippenerzieherinnen und einem Kind. Diese Filme wurden analysiert und ausgewertet. Erzieherinnen waren „mechanischer, schroffer und kürzer angebunden“, und es gab „deutlich weniger vertraulichen Austausch“.(6)

Noch in vielem mehr lässt sich beim Mutterwerden und -sein im Gehirn und Verhalten nachweisen, dass Bemutterung etwas Exklusives ist. Und genau das braucht ein Baby und Kleinkind für seine Gehirnentwicklung. Die Bindungsentwicklung und vor allem die Gehirnregionen für emotionale Intelligenz, Sozialverhalten, Stressmanagement und Lernen (die Voraussetzung für Bildungsfähigkeit) gedeihen hauptsächlich unter Bemutterung – und nicht etwa durch „Fördern und frühkindliche Bildung“.(7)
Es ist also ein großer Unterschied für das Kind, ob es bemuttert oder nur betreut wird.

Drei weitere Aspekte von Bemutterung sind für meine Folgenabschätzung von Bedeutung:

1. Bemutterung ist ganz und gar nichts Statisches oder Gegebenes. Zwar hat die leibliche Mutter hormonell einen erheblichen Vorschuss, aber die Bemutterung muss auch stetig ausgeübt werden, um nicht an Intensität zu verlieren, so wie Muskeln auch schwächer werden, wenn man sie nicht benutzt. Bemutterung ist daher unmittelbar an die mit dem Kind gemeinsam verbrachte Zeit gebunden. Einen entscheidenden Einfluss hat direkter Körperkontakt.(2;3)
So ändert sich auch bei Männern die hormonelle Lage, wenn sie Väter werden, wenn auch nicht so drastisch. Nur kehrt sie bei den meisten Vätern schnell wieder in die Nähe der Ausgangslage zurück, da ihnen oft nur ein kurzer Kontakt mit ihrem Kind bleibt.(3)
In der großen NICHD-Studie (5), in der über 1.000 fremdbetreute Kinder miteinander verglichen werden, ist über die Interaktion von Mutter und Kind in den ersten drei Lebensjahren zu lesen: „Wenn Kinder mehr Zeit in Fremdbetreuung verbrachten, zeigten ihre Mütter ein geringeres Maß an Feinfühligkeit.“
Andere Untersuchungen legen den Verdacht nahe, dass das Interesse am Kind überhaupt mit Trennungen nachlässt.(2)

2. Wenn ein Affenweibchen Mutter wird und selber als Baby keine (oder wenig) Bemutterung erhalten hat, kümmert es sich gar nicht (oder kaum) um sein Junges.(8) Auch der Mensch lernt Bemutterung durch die Bemutterung, die er selber erfahren hat. Der Grad der Bemutterung, die jemand als Kind erlebt hat, bestimmt den Grad der Fähigkeit zur Bemutterung.
Experimente mit Nagern beweisen, dass sich die Steuerungsmechanismen von Genen, die für Bemutterung von Bedeutung sind, durch geringere Bemutterung verändern. Die Veränderung wird an die nächste Generation weitergegeben. Diese bemuttert dann ihren Nachwuchs von vorneherein weniger.(9) Aus der Arbeit mit Brennpunktfamilien ist dieses Phänomen bekannt.(10)

Eine Art starken Eingreifens in die Bemutterung hatten wir z.B. schon mit der Erziehungsideologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Fast jegliche Bemutterung wurde als „Verwöhnen“ verurteilt oder reglementiert, z.B. durch Füttern nach der Uhr. „Im Laufe (…) des Umgangs mit kleinen Kindern merkte ich, dass ich bestimmte Dinge einfach nicht konnte“, beschreibt Sigrid Chamberlain ihre Erfahrung als Mutter: Erkennen, was Kinder brauchen, Körperkontakt zulassen, trösten – eben all das, was sie selber nie erfahren hatte.(11)

3. Auch die inneren Ressourcen, die zur Bemutterung nötig sind, hängen mit dem Grad der erfahrenen Bemutterung zusammen. Dazu gehören Kraft, Belastbarkeit und die Fähigkeit, Gefühle zu regulieren und Stress zu bewältigen.(7)

Mit Sicherheit lässt sich sagen:
Wir haben gegenwärtig durch die „Familien­politik“, die rein auf Fremdbetreuung von Kindern („Vereinbarkeit“ von Familie und Beruf) abzielt, eine doppelte Reduzierung der Bemutterung: In der Zeit, in der eine Mutter nicht mit ihrem Kind zusammen ist, bemuttert sie es nicht, und in der verbleibenden Zeit mit dem Kind ist sie weniger feinfühlig.

Für meine Folgenabschätzung heißt das:
Jede geringer bemutterte Generation hat selber weniger Ressourcen, geringere Fähigkeit zur Bemutterung und vermutlich auch weniger Interesse am Kind. Deren Kinder werden von vornherein noch weniger bemuttert. Folglich startet jede Generation mit ungüns­tigeren Voraussetzungen für emotionale Intelligenz, Sozialverhalten, Stressbewältigung und Lernen.
Das, was sich Politik und Wirtschaft auf die Fahnen geschrieben haben, wird sicher nicht eintreten: Mehr Interesse an Kindern, höhere Geburtenraten, ein hochkarätiger Nachwuchs durch Förderung und Bildung.

Ich behaupte, die Auswirkungen dieser die Bemutterung reduzierenden Politik sind schon heute bemerkbar. Ein Beispiel:
Die Diplompsychologin Herta Harsch recherchierte über die „Geschichte der Fremdbetreuung“. Sie meint, immer dann, wenn Frauen keine Anerkennung für Arbeiten der Kinderpflege bekamen, wollten sie diese Arbeit „an Untergebene erst teilweise und allmählich ganz abgeben“, um „an den gesellschaftlich geachteten männlichen Domänen teilzuhaben“. Sie schreibt weiter: „(…) wenn das Weggeben des Kindes die Entstehung von emotionaler Nähe und Bindung an das Kind verhinderte, ließ das Interesse, überhaupt Kinder zu haben, nach.“ Die Kinderzahlen sanken.(12)

Fußnoten:
(1) Folgenabschätzung heißt, Ideen, Erfindungen, Reformen usw. auf ihre Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt zu überdenken und zu überprüfen.
(2) John Bowlby: Attachment. Attachment and Loss (Band 1). 2. Auflage: Basic Books, New York 1982. Dt.: Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Kindler Verlag, München 1982.
Ders.: Separation: Anxiety and Anger. Attachment and Loss (Band 2). 1. Auflage: Basic Books, New York 1973. Dt.: Trennung. Psychische Schäden als Folge der Trennung von Mutter und Kind. Kindler Verlag, München 1976.
(3) Katherine Ellison: The Mommy Brain. How Motherhood Makes Us Smarter. Basic Books, New York 2005 .
(4) Anne Manne: Motherhood. How should we care for our children? Verlag Allen & Unwin, Sydney 2005.
(5) NICHD = National Institute of Child Health and Human Development. Ergebnisse dieser größten Langzeitstudie der USA zu frühkindlicher Fremdbetreuung sind im Internet veröffentlicht (englisch) unter www.nichd.nih.gov/research/supported/seccyd.cfm
(6) Steve Biddulph: Raising Babies – Should under 3″s go to nursery? Harper Thorsons, London 2005
(7) Sue Gerhardt: Why love matters. How affection shapes a baby“s brain. Verlag Brunner-Routledge, Hove und New York 2004.
(8) Experimente des US-amerikanischen Psychologen und Verhaltensforschers Harry Harlow. Beschrieben z.B. von Deborah Blum in: Love at Goon Park. Harry Harlow and the Science of Affection. Perseus Books, New York 2002.
Deutsche Ausgabe: Die Entdeckung der Mutterliebe. Die legendären Affenexperimente des Harry Harlow. Beltz Verlag, Weinheim 2010
(9) Neil A. Youngson; Emma Whitelaw: Transgenerational Epigenetic Effects. Annual Review of Genomics and Human Genetics Vol. 9: 233-257, (2008), insbesondere S. 236ff
Online: chd.ucsd.edu/_files/winter2009/Youngson.TransgenerEpigenEffects.08.pdf
(10) Vorträge von Prof. Dr. Gerhard J. Suess; u.a. „Unglückliche Kreisläufe durchbrechen – Wie können pädagogische Fachkräfte Kinder mit unsicheren Bindungsmustern korrigierende Erfahrungen machen lassen?“ am 08.11.2007 in Crailsheim.
(11) Barbara Tambour: Anleitung zur Kaltherzigkeit. Aus der Kinderstube des Herrenmenschen. Säuglingspflege im Nationalsozialismus. Ein Gespräch mit Sigrid Chamberlain. In: PublikForum 10/2008, S. 55
(12) Herta E. Harsch: Psychoanalytische Überlegungen zur 4000jährigen Geschichte der frühen außerfamiliären Betreuung. In: Psyche, Jahrgang 62, Heft 02, Februar 2008 , S. 109-117

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